David Helm — Im Prinzip erreicht Musik alle


Gleich zu Beginn hört man seinen Kontrabass: Lustvoll schlägt David Helm im Stück „Trial & Errol“ tiefe, körpervolle Töne an, lässt sie in Ruhe atmen, schafft die Grundlage für die Dinge, die das Zooom Trio auf ihrer CD „What’s for Dessert?“ herbeizaubert. Schlagzeuger Dominik Mahnig mischt sich mit subtilen sphärischen Klängen ein, dann tastet sich Christian Lorenzen auf dem Wurlitzer Electric Piano heran, und schon blitzen Erinnerungen an die „funky“ Höhenflüge dieses aus der Mode gekommenen elektromechanischen Tasteninstruments auf. Doch dann gibt es gänzlich Ungehörtes: Drei spielfreudige, vollkommen gleichberechtigte Klang- und Improvisationskünstler beackern das Feld ihrer durch und durch gegenwärtigen Musik, erfinden ihr eigenes Gefüge aus Klang, Raum und Zeit. „
Turn on, drop out“, empfahl Dieter Manderscheid begeistert, „Zooom: für Jugendliche unter 80 Jahren geeignet, der Konsum ist bewusstseinserweiternd, aber straffrei…“

Trios sind eine von Helms liebsten Spielwiesen, wobei eines faszinierender als das andere ist. Ob das Zooom Trio, das Trio des Pianisten Philip Zoubek (ebenfalls mit Dominik Mahnig) oder Pollon der Saxofonistin Theresia Philipp (mit Thomas Sauerborn am Schlagzeug): Sie alle spielen sozusagen „dreidimensional“, jedem Instrument kann die Führungsrolle zufallen, sodass auch der Kontrabass rhythmisch wie melodisch völlig unabhängig agiert, phrasiert und gestaltet. Auch das Shannon Barnett Quartett klingt häufig wie ein Trio: Barnetts Posaune und dem Saxofon von Karl Stefan Schmid gelingt mitunter ein magischer Gleichklang, dem Helms Kontrabass und Fabian Arends‘ Schlagzeug quasi kontrapunktisch Flügel verleihen.

Das Trio ist im Idealfall ein dreibeiniger Tisch, da stehen immer alle Füße auf dem Boden, sodass er nicht wackeln kann. Beim vierbeinigen Tisch muss man schon mal etwas unterlegen, aber im Trio sind alle für Stabilität und Tragfähigkeit verantwortlich. So ist die Chance besonders hoch, dass viel Energie fließt. So ist Chance besonders hoch, dass viel Energie fließt. Auch kann man schnell und sehr fein kommunizieren. In den Trios, in denen ich spiele, geht es um Elementares, aber auch um Vertrauen, da kann auch mal was fast über die Klippe fallen, wenn man Risiken eingeht, aber es ist okay, wenn jemand mal aus der Bahn fliegt, den holt man dann halt wieder zurück. Man hat ja nicht einfach nur etwas geschrieben, das man dann genauso spielen muss. Wir würden nie jeden Abend immer nur das Gleiche spielen, das verträgt unsere Musik gar nicht, sie braucht stets eine gewisse Sprunghaftigkeit.

Aus den Trios ergeben sich schöpferische, dabei immer wieder andere Energien, die sich dann auch in anderen Formationen entdecken lassen, in denen Helm spielt, etwa im Sextett Makkro, das sich mitunter sogar mit einer Bigband wie dem Subway Jazz Orchester „misst“. Oder auch in der Großformation Fosterchild. Das alles ist für Helm kein gesteuerter Plan, erst recht empfindet er es nicht als das Ergebnis einer bewusst geplanten künstlerischen Entwicklung.

Für mich ist jedes Trio ein ganz eigenes Universum. Mit dem Zooom Trio haben wird jetzt endlich wieder eine neue CD eingespielt, es dauert halt in dieser Konstellation sehr lange, bis wieder mal etwas passiert, weil es keine richtigen Band-Leader gibt. Und wenn wir bei Pollon von einer spezifischen Art der Geschwindigkeit reden, dann erinnere ich mich an Platten von Albert Ayler, auf denen Gary Peacock spielt, das ist manchmal ein wahnsinniges Gewusel, aber es ist organisch und total natürlich. Da geht es auch gar nicht so sehr um Geschwindigkeit, es passiert nur eine Menge von Dingen gleichzeitig. Das Shannon Barnett Quartett mag tatsächlich oft wie ein Trio klingen, Shannon und Stefan blenden sehr gut, das stimmt. Wir kamen damals gerade von einer Australien-Tour zurück und haben die CD einige Tage danach im Hansahaus-Studio in Bonn mit Oliver Bergner aufgenommen, einem genialen Soundmenschen, einer der Besten für diese Art von Musik, bei der es akustisch und delikat zugeht. Dadurch dass wir zuvor viele Konzerte gespielt hatten, dachte man im Studio dann gar nicht mehr darüber nach, wir spielten die Musik auswendig und entspannt, ohne jegliche Anspannung. 

Auch beim Zooom Trio, in dem es sonst sehr viel Elektronik gibt, hat David Helm am Kontrabass als zentralem Klanglieferanten festgehalten.

Das ist in jedem Fall Absicht, so bekommt das seine jeweils eigene Gewürzmischung. Der E-Bass war für mich lange Zeit sowieso ein rotes Tuch, bis ich dann irgendwann eine Art entdeckt habe, wie ich ihn überhaupt spielen will. Seit die Gitarre für mich wichtiger geworden ist, bewege ich mich schon wieder in einem anderen Universum, und der E-Bass tritt ein Stück weit zurück. Zwischendurch hatte ich durchaus eine Phase, in der ich laut und brachial sein wollte. Das hat mir dann aber auch gezeigt, welch eine besondere Stimmung der Kontrabass verbreitet, welch tolle Klangfarben er in verschiedenen Kontexten schaffen kann.

Und dennoch gibt es, vielleicht eher subkutan, reizvolle Stringenzen zu entdecken: Ein Stück wie „Jim Velvet“ vom Zooom Trio hat schon erste Anklänge an die Konzeption von Mark Johnson, so eine gewisse frühe Indie-Song-Ebene voller Leichtigkeit, die nie belanglos klingt.

Ich kenne viele Leute, die wie ich einfach gute Songs lieben. Wir hören wahnsinnig viel Musik, und es gab da eine Phase, da haben wir viel Songwriters gehört. Mir war schon vor Marek Johnson klar, dass ich einen Gegenpol zum Modern Jazz brauche, weil ich gerne klare Songs schreibe und sie auch singe, das hatte ich früher auch schon im Chor gemacht. Auch bei Fosterchild sind meine Kompositionen oft eher wie Songs angelegt, die komplexen Strukturen kommen erst durch das Zusammenspiel mit Musikern wie Fabian Arends und Philipp Zoubek, während das geschriebene Material oft einfach nur eine Melodie ist. Das Songmäßige war also immer schon da. Hinzu kommt, dass es sich lange Zeit für mich so angefühlt hatte, es dürfe bloß nicht zu einfach sein, es sei cooler, wenn man alles abstrahiert und auflöst. Da redet man auch oft drüber, und irgendwann stellt man fest, wie schön es ist, eine Ballade zu spielen, nicht weil man beweisen will, dass man das kann, sondern weil man einfach etwas erzählen möchte, und das aus tiefstem Herzen. Das ist etwas, was ich dann auch in die abstraktere Musik mitnehmen will. Es hat ja seinen Charme, wenn die komponierten und gespielten Strukturen komplex sind, aber all das verliert an Wert, wenn es nicht auch einen emotionalen Faktor hat.

Der komplexe zeitgenössische Jazz arbeitet viel und gerne mit lyrischen und melodiösen Impulsen, aber mitunter scheint es dann doch schwierig – oder uninteressant –, eingängige Melodien zu schaffen und sie in die Themen einzubinden… 

Eigentlich lieben wir alle die Melodie. Das Ding ist aber, dass der Jazz, wie wir ihn machen, immer auch eine Art Forschungsprojekt ist. Für uns, die wir tagein tagaus komponieren, spielen und harmonisch neue Wege suchen, klingt das vielleicht ohnehin weniger abstrakt als für Außenstehende. Aber das gibt es beim Film ja auch, dass Menschen unterschiedliche Seherfahrungen mitbringen und die einen das Komplexe goutieren, während andere maulen und fordern, kannst Du nicht einfach mal eine Geschichte erzählen? Ich muss da an Miles Davis denken, der keine Balladen mehr spielen wollte, gerade weil er es so liebte, Balladen zu spielen. Er wollte nicht immer nostalgisch weitermachen, denn so unfassbar schön eine Melodie auch ist: Man muss und will weitergehen und schauen, was es da noch so gibt. Die heutige Komplexität der Musik entsteht durch komplexe rhythmische Strukturen, die sich immer mehr zu einem rhythmischen, tonalen und harmonischen Vokabular entwickelt haben. Alles hat sich erweitert, läuft parallel zur Neuen Musik, gerade auch, wenn es um Improvisationskonzepte geht, um Farben, wie ein Instrument klingen kann. Das sind Dinge, da will man einfach viel wissen, und wenn man das Glück hat, mit so vielen fantastischen Musikerinnen und Musikern zusammenzukommen wie ich, mit denen man dann auch noch befreundet ist und mit denen man sich gemeinsam weiterentwickelt, dann will man sich nicht auf dem ausruhen, was man mehr oder weniger kann. Es gibt diesen Drang, immer weiter zu kommen.

Tatsächlich ist die Musik von Fosterchild, die Helm und Fabian Arends gemeinsam ins Leben gerufen haben, noch einmal ein gutes Stück komplexer und wagnisreicher gestaltet. Vergleichsweise lange muss man auf der CD darauf warten, dass Helm als Bassist ins musikalische Geschehen eingreift, zunächst bauen die Pianisten Simon Nabatov und Philip Zoubek virtuos Spannung und Intensität auf. So erweisen sich Helm und Arends vorrangig als versierte Komponisten, bei denen Jazz und Neue Musik, Komposition und Improvisation untrennbar ineinanderfließen. Helm und Arends loten alle ästhetischen Möglichkeiten ihres Projekts aus, schlagen Haken und beeindrucken mit feinsten Nuancen, die sich aus dem steten Wechsel von Stimmungen und instrumentalen Zusammenstellungen ergeben.

Ich bin eigentlich gar kein so konzeptioneller Typ, auch die Musik von Fosterchild entwickelte sich eher intuitiv. Fabian und ich verfolgen seit Jahren eine gemeinsame Ästhetik, die zu einem Konzept wurde, ohne dass wir das als solches bezeichnen. Das kommt einfach dabei heraus, wenn wir zusammen spielen. Vieles ist Intuition, viel hat mit dem Moment zu tun. Vor allem aber muss man darauf vertrauen, dass alle das Konzept mittragen. Bei Fosterchild hatten wir schon früh den konkreten Klang im Gehör, sodass wir genau wussten, welche Mitspieler wir dafür haben wollten. Klar, wir haben das gesteuert, aber mitunter auch gesagt: Macht einfach. Denn wir wussten, wenn nicht alles schief geht, dann kommt das heraus, wie wir von Beginn an haben wollten. Das ist ein natürliches Arbeiten, daraus entstehen die Dinge.

Nicht zuletzt Fosterchild dürfte dazu beigetragen haben, dass David Helm nun mit dem Jazzpreis der Stadt Köln 2019 ausgezeichnet wurde. Die Jury lobt Helms breit angelegte Klangskala, das Universelle, die enorme Variabilität und den ausgeprägten Sinn für Klang und Nuancen.

Das zeigt mir, dass es bis zu einem gewissen Grad eine erkennbare Klarheit in dem gibt, was ich mache. Ich bin immer auf der Suche nach Klarheit, nicht weil in der Musik alles klar sein muss, sie kann durchaus auch geräuschhaft-diffus sein, aber sie muss klar in der Aussage sein. Ich hatte mich schon einige Jahre hintereinander für den Preis beworben, man reicht dafür jeweils Arbeitsunterlagen ein, die kann man frei ausgestalten. Das ist interessant, weil man jedes Jahr ein bisschen davon erkennen kann, wo man gerade musikalisch steht. Dabei kam ich wohl immer etwas näher an das heran, was ich musikalisch vertrete, und diesmal war es so authentisch wie noch nie. Mir ist es wichtig, in einem Ensemble gemeinsam mit anderen etwas musikalisch zu gestalten, mit Menschen, die mir nahe sind und mir etwas bedeuten. Mit Fabian Arends blicke ich jetzt schon auf gemeinsame neun Jahre zurück, das ist für unser Alter schon eine richtig lange Zeit. Und das wird hoffentlich noch lange weitergehen. 

David Helm, 1990 geboren im hessischen Weilburg, kam 2011 nach Köln, wo er an der Hochschule für Musik und Tanz Kontrabass bei Dieter Manderscheid studierte. Seitdem prägt er die hiesige Jazzszene entscheidend mit – und überraschte vielleicht auch sie, als er etwa zeitgleich zu Fosterchild ein weitere Band gründete: Marek Johnson bietet feinste, melancholisch-nachdenkliche Indie-Pop-Rock-Songs, die Helm selbst singt und zu denen er Klavier und Gitarre spielt.

In den Texten von Marek Johnson geht es viel um den Zustand, in den sich Menschheit hineinmanövriert und der einfach nur absurd ist. Dennoch marschiert sie immer weiter, wie die Lemminge bewegen wir uns auf den Abgrund zu. Es sind Songs, denen man die dunklen Momente deutlich anhört. Musikalisch fühle mich dabei wie ein Kind, das ein neues Instrument geschenkt bekommen hat und jede Minute Klangforschung betreiben will. Es gibt auf der Gitarre immer wieder neue Sachen, die ich herausfinde. Wie kann ich das alles auf eine Art verbinden, die ich so noch nicht gehört habe? Dabei halte ich mich daran, was der Bassist Ron Carter einmal sinngemäß gesagt hat, dass wenn man beim Üben nur eine neue Sache am Tag findet, dann kann man am Abend gut einschlafen. Dafür muss ich gar nicht die Welt neu erfinden, mitunter sind es einfach nur Unfälle mit einem Instrument, das ich nicht studiert habe, aber dabei kann ich die Gitarre auf meine ganz eigene Weise und mit meinen ganz persönlichen ästhetischen Empfinden erforschen. 

Auch Fosterchild ist ein offenes und variables Versuchslabor, mal ein Großensemble, mal ein Septett, am Abend der Kölner Preisverleihung ein Quintett. Dabei geht David Helm viel Risiko ein, bietet auch an einem solchen Festabend Neues und Unerforschtes, von dem er selbst noch nicht weiß, wie es wird und wirkt.

Ich habe für diesen Abend neue Musik geschrieben. Auch wenn Fosterchild ein gemeinsames Projekt von Fabian Arends und mir ist, wollte ich den Abend nutzen, um neue Sachen aufzuführen, wobei natürlich auch viel improvisiert wird, die Stücke sind lediglich Eckpfeiler, an denen man sich orientiert. Es ist ja ein Luxus, dass man sie so spielen kann und darf, wie man spielt, darüber freue ich mich besonders. Wobei ich sowieso nur von dem ausgehen kann, was ich wirklich spielen will und was ich selbst gerne von mir hören würde, damit ich authentisch bleibe. 

Bei alldem ist zu spüren, wie tief Helm mittlerweile mit Köln, der hiesigen Szene und ihren Musikerinnen und Musikern verwachsen ist.

Das liegt an meinen vielen engen Beziehungen in der Stadt, die haben für mich einen hohen Wert, es bedeutet mir unfassbar viel, hier gemeinsam mit anderen Leuten „unser Ding“ zu entwickeln. Der Drang vieler, unbedingt nach New York zu müssen, ist für sie das absolut Richtige, und auch für mich ist es ja inspirierend, immer mal wieder dorthin zu fahren; aber die Beziehungen und die Vertrautheit mit Leuten, die ich hier habe, die kann man nicht kaufen, das ist ein Schatz, den ich nicht aufgeben will, nur weil ein anderer Ort auf den ersten Blick verführerischer erscheinen mag. Mir ist es wichtig, tiefe Beziehungen aufzubauen, natürlich gerne auch mit internationalen Musikern wie jetzt gerade mit Jacob Anderskov und Kasper Tranberg, mit denen Fabian und ich dann irgendwann sehr vertraut geworden sind.

Was ich spannender finde: Im Sommer gab es hier in Köln das Festival „Kraut am Ebertplatz“, da haben wir mit Marek Johnson gespielt. Es war eine super Stimmung jenseits all dieser krassen Vorfälle, die mich extrem aufregen, weil sich der Ebertplatz gerade erst wieder im Aufwind befindet und es doch so schön ist zu beobachten, was da kulturell passiert. Es war toll zu erleben, wie uns alle zugehört haben, jüngere Familien, zufällige Passanten, die einfach nur shoppen gehen, kurz stehen blieben und zuhörten, Obdachlose. Wir spielten quasi vor einem breiten gesellschaftlichen Biotop, bei dem sich die einzelnen Leute erst einmal reserviert gegenüber standen, bis sie dank der Musik erkannten, dass man sich ja eigentlich gar nichts tut und wir alle hier sind, weil wir gerade mal eben Musik hören. Das ist in Köln so ein Ort, wo Musik Brücken bauen kann. Wobei es in diesem Moment egal ist, ob ich da gerade sonderlich schöngeistige oder sonst wie hochambitionierte Musik mache, die Leute nahmen sie an, im Prinzip erreichte sie alle.

Das Gespräch mit David Helm führte Horst Peter Koll September 2019 in Köln.

Horst Peter Koll schreibt seit vielen Jahren über Film und Kino, war Chefredakteur zweier Filmmagazine und engagiert sich vor allem auch für den Kinder- und Jugendfilm, aktuell als Kurator beim Online-Portal filmfriend.de. Dem Jazz folgt er inzwischen seit einem halben Jahrhundert, veranstaltete mitunter selbst Konzerte und schreibt gerne über junge wie alte, renommierte wie neue Musikerinnen und Musiker, vorrangig im "Kölner Stadt-Anzeiger".